Antisemitismus ist keine Frage der Wahrnehmung, sondern eine Frage der Interessen

ASSA Journal 2/2018 ISSN 1815-3704

Martin Auer

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Dieser Beitrag untersucht Unterrichtsempfehlungen und Unterrichtsmaterialien zum Thema Antisemitismus, herausgegeben von internationalen und nationalen (österreichischen) Organisationen. Dabei wird festgestellt, dass Antisemitismus nicht politisch betrachtet wird, sondern auf der Ebene des Individuums, als eine bestimmte Wahrnehmung, die korrigiert werden soll, indem Vorurteile abgebaut, Stereotypen entlarvt werden und ein realitäts-gerechtes Bild der Vielfältigkeit des Judentums gezeigt wird. Dem wird entgegengehalten, dass Antisemitismus – wie Rassismus überhaupt – nur verstanden werden kann, wenn seine jeweilige Funktion für die verschiedenen Interessensgruppen der Gesellschaft erkannt wird. Dazu wird Brian Fergusons Begriff des Identerest herangezogen. Identerest-Politik besteht darin, ein Sicherheitsdilemma zu schaffen, die Gesellschaft zu polarisieren und die Interessen eines Kollektivs so zu definieren, dass sie mit den Interessen der gesellschaftlichen Eliten zusammenfallen. Das wird unter anderem anhand der Funktion behandelt, die die national-sozialistische antisemitische Politik für die Zerschlagung der Demokratie, die Errichtung der Diktatur und die Vorbereitung des Eroberungskriegs hatte. Das Analysewerkzeug Identerest wird auch auf andere Formen des Rassismus angewendet. Um Rassismus zu bekämpfen, ist es notwendig, dass Menschen unterschiedlicher „Identitäten“ erkennen, inwieweit diese Identi-täten konstruiert sind, was die Funktion dieser Konstruktionen ist, welche gemeinsamen existenziellen Interessen sie miteinander verbinden und wie Identitätskonstruktionen sie daran hindern, gemeinsam für gemeinsame Interessen einzutreten.

Schlagworte: Antisemitismus, Rassismus, Unterricht, Identerest

English Abstract

This paper examines educational recommendations and teaching materials on anti-Semitism issued by international and national (Austrian) organizations. It finds that anti-Semitism is not treated as a political phenomenon, but instead at the level of the individual, namely as “a certain perception of Jews” that needs to be corrected by breaking down prejudices, debunking stereotypes, and showing a realistic picture of the diversity of Judaism. This paper disagrees and points out that anti-Semitism – like racism in general – can only be understood if its respective functions for the various interest groups of society are recognized. To clarify this, Brian Ferguson’s concept of Identerest is used. Identerest policy consists in creating a security dilemma, polarizing society and defining the interests of a collective in such a way that they coincide with the interests of the social elites. The function of Nazi anti-Semitic policy for the destruction of democracy, the establishment of dictatorship and the preparation of the war of conquest is being discussed as an example. The analytical tool Identerest is also applied to other forms of racism. In order to fight racism, it is necessary for people of different “identities” to recognize to what extent these identities are constructed, what the function of these constructions is, what shared existential interests actually bind them together, and how identity constructions prevent them from acting together for common interests.

Keywords: anti-Semitism, racism, education, identerest

Lebenslauf/vita

Martin Auer wurde 1951 in Wien geboren. Nach der Matura zwei abgebrochene Studien. Schauspieler, Musiker, Werbetexter, seit 1986 freier Schriftsteller. Über 40 Buchpublikationen in unterschiedlichsten Genres, darunter die Biographie des Philosophen und Entomologen Jean-Henri Fabre: Ich aber erforsche das Leben (Beltz & Gelberg 1995) und die Feldstudie über Prostitution in Wien: Hurentaxi. Aus dem Leben der Callgirls (Lit 2006). Seit 2016 Studium der Kultur- und Sozialanthropologie an der Universität Wien. www.martinauer.net

Martin Auer was born in Vienna in 1951. After Matura (A-levels) two failed attempts at university studies. Actor, musician, copy writer. Book publications since 1986 in different literary genres, among them a biography of French philosopher and entomologist Jean-Henri Fabre: “Ich aber erforsche das Leben” (Beltz & Gelberg 1995) and a field study about prostitution in Vienna: “Hurentaxi. Aus dem Leben der Callgirls” (Lit 2006). He has been studying Social and Cultural Anthropology at the University of Vienna since 2016. www.martinauer.net

Kontakt (2018): office.martin.auer@gmail.com